Kennen Sie den Film Rashōmon des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa? Er hat eine ganz spezielle Erzähltechnik. So wird beim «Rashomon-Effekt» ein und derselbe Sachverhalt in widersprüchlichen aber in sich schlüssigen Versionen aus Sicht verschiedener Personen dargestellt. Diese Technik schien mir geeignet, um einige Aspekte beim Fundraising zu beleuchten. Denn ein Blick in die Arbeitsrealität des Gegenübers kann Hinweise geben, um die eigenen Prozesse zu überdenken oder einfach nur die Nerven beruhigen.
Darsteller sind die Organisation A, die seit vielen Jahren erfolgreich an der Verbesserung der Lebensumstände ihrer Zielgruppe arbeitet, und die Stiftung B, die ein jährliches Förderbudget und eine Geschäftsführerin als einzige Mitarbeiterin hat. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten sind nicht zufällig.
Klappe auf
Der Fundraiser der Organisation A sucht Mittel und macht eine Stichwortsuche in einer Stiftungsdatenbank. Wunderbar, viele potentielle Stiftungen! Nur blöd, dass die meisten keine Website mit mehr Informationen haben. So verschickt er unzählige Dossiers auf gut Glück – mit Jahresbericht und Broschüre, man weiss ja nie. Er seufzt, denn das verteuert das Fundraising. Dabei bestehen Stiftungen selbst auf niedrige Verwaltungskosten!
Da fällt ihm die nette Geschäftsführerin der Stiftung B ein. Sie hat enthusiastisch zugehört, als er von seiner Organisation erzählte und verstand, dass sie dringend mehrjährige Engagements benötigen, um Planungssicherheit zu haben. Er telefoniert mit ihr und beantragt einen Betrag über 3 Jahre.
Die Entscheidung kommt: Zusage für ein Jahr mit Aussicht auf Verlängerung. Er freut sich, ja, aber ist auch ratlos. Die Organisation B passt doch perfekt zum Stiftungszweck! Nach den Gesprächen hatte er mit mehr gerechnet und keine weiteren Förderer angesprochen.
Szenenwechsel
Die Geschäftsführerin der Stiftung B sondiert Förderanträge. Über 300 Anträge pro Jahr, von denen höchstens 20 bewilligt werden. Bei einem Grossteil reicht ein Blick, es passt einfach nicht. Unwohl ist ihr schon, als sie wieder Berge von abgelehnten Dossiers, Jahresberichten und Broschüren vernichtet. Sie seufzt, hier hätte ein Telefon vorab dem Antragsteller viel Mühe gespart. Zum Glück gibt es endlich die neue Website, denn die Anzahl interessanterer Anfragen erhöht sich merklich.
Sie liest den Antrag der Organisation A. Er ist super. Oh je, denkt sie, genauso wie die zwei anderen Anträge mit den gleichen Zielen! Denn sie muss eine Auswahl treffen, um das Förderbudget einzuhalten. Sie fasst das umfangreiche Dossier auf einer Folie zusammen. Puh, diese Antragslyrik – wo sind hier jetzt die relevanten Aspekte? Dann übt sie ihre Plädoyers für zehn weitere Anträge.
Tag der Sitzung: Der Stiftungsrat findet sich am ovalen Designertisch ein. Er findet die Organisation A toll und versteht das mit der Planungssicherheit. Aber bei einem Mehrjahresbeschluss wäre ein Grossteil des Förderbudgets schon weg. Das liesse ja wenig Raum für andere Projekte in diesem Jahr? Und, sollte man nicht lieber jedes Jahr jemand anderem die Chance geben? Ja, die Organisation A ist renommiert und erzielt Wirkung aber ist sie innovativ? Ist innovativ wichtig? Mehrere sehr unterschiedliche Persönlichkeiten diskutieren ausführlich. Der Beschluss lautet, vorerst nur für ein Jahr mit Aussicht auf Verlängerung.
Fazit für Antragssteller
- In Stiftungen wirken Kräfte, die Sie weder einsehen noch beeinflussen können. Eine Absage hat oft nichts mit Ihrem Antrag zu tun. Setzen Sie deshalb nie nur auf ein Pferd.
- Jemand, der Ihnen wohlgesonnen ist, aber Ihr Anliegen nur oberflächlich kennt, spricht für Sie vor dem Stiftungsrat. Helfen Sie ihm mit einer tipptopp «Elevator Speech».
- Verlassen Sie sich nie auf die Satzung einer Stiftung. Rufen Sie an.
Für Förderstiftungen
- Ineffizienzen im Fundraising können beseitigt werden, wenn Sie Ihren Förderzweck im Profil von www.stiftungschweiz.ch präzisieren.
- Suchen Sie sich Fundraiser-Buddies. Der regelmässige, offene Austausch ist Gold wert. Danke Wanda und Michael!